Manchmal, in den tiefsten, dunkelsten Stunden dieser Depression – dieser zweiten, die sich so viel unnachgiebiger anfühlt als die erste – frisst sich eine Frage in meinen Verstand: Ist das Karma?
Schon beim ersten Mal, als die Dunkelheit kam, habe ich damit gerungen. Ich habe versucht, eine Art kosmische Gerechtigkeit darin zu sehen, eine Strafe für etwas, das ich getan habe. Also habe ich meine Vergangenheit durchwühlt, habe jeden Winkel meines Lebens ausgeleuchtet auf der Suche nach einer Schuld, die groß genug ist für das hier.
Und ja, natürlich habe ich Fehler gemacht. Ich war nicht immer der Mensch, der ich sein wollte. Ich habe Menschen enttäuscht und sicher auch verletzt. Ich denke da an Birgit, und dieser Schmerz sitzt tief (darüber habe ich an anderer Stelle geschrieben). Aber ich frage mich, mit Tränen in den Augen und Blei in der Brust: Reicht das für eine Rache dieser Größenordnung? Für eine Depression, die mich zweimal heimsucht?
Reicht es vor allem dafür, dass ich dieses Mal das erdrückende Gefühl habe, gar nicht mehr herauszukommen?
Ein winziger Funke erinnert mich daran, dass es beim letzten Mal auch so war. Vor der Reha war ich an einem Punkt, so tief, so leer. Ich hatte keine Kraft, keine Lust, keinen Glauben mehr. Und dann, wider Erwarten, wurde es besser. Alles wurde gut. Aber dieser Funke ist so klein und die jetzige Finsternis so allumfassend.
Denn wenn ich schon bei der Suche nach „Gerechtigkeit“ bin, dann kommt unweigerlich der andere Gedanke. Der Gedanke, der leise flüstert und dann immer lauter schreit: Was habe ich denn schon alles mitmachen, aushalten, überleben müssen?
- Der prügelnde Vater, der mir mit seiner Gewalt sogar das Weinen ausgetrieben hat.
- Der Vater, der versucht hat, meine damalige Freundin zu missbrauchen.
- Die Mutter, von der nie ein Funken Liebe kam. Nur Kälte.
- Die Mutter, die aus diesem versuchten Missbrauch keine einzige Konsequenz gezogen hat. Die geschwiegen und es geduldet hat. Später sogar angezweifelt, obwohl sie wie ich auch Zeuge der Situation war.
- Die Mutter, die mir eines Tages ins Gesicht sagte: „Ich bin froh, dass Du und Dein Bruder nie lebenden Nachwuchs gezeugt haben.“ Ein Satz, der sich wie Gift in die Seele brennt.
- Der Bruder, der mich immer nur mit Verachtung gestraft hat.
- Die drei Frauen in meinem Leben, die mich nach Strich und Faden belogen, betrogen und finanziell ausgenutzt haben.
- Die unzähligen Schläge und der permanente, zermürbende Stress mit meiner narzisstischen Ex-Freundin. Der ich immer und immer wieder verziehen habe, was die Hölle im Endeffekt nur noch schlimmer machte.
- Die Nacht in Berlin, die ich zitternd auf einer Bank am Tegeler See verbracht habe, weil sie so durchgedreht war, dass ich mich nicht traute, in der gemeinsamen Wohnung zu schlafen.
- Der Tag, an dem ich fast obdachlos geworden wäre, weil wieder einmal jemand in meinem Umfeld die Kontrolle verlor.
- Der Missbrauch, der mir mit 16 angetan wurde.
- Der Verlust meines Jobs, und damit der Verlust jeglicher Perspektive.
Ich lese diese Liste und frage das Universum, das Schicksal, oder wen auch immer: Reicht das nicht?
Ja, ich habe Birgit wehgetan. Aber was habe ich für all das andere getan? Was muss ein Mensch getan haben, um das alles zu „verdienen“? Was habe ich dieser Welt angetan, dass sie mir so viel Schmerz zurückgibt?
Ich kann mich in meiner gesamten Kindheit an kein einziges schönes Weihnachtsfest erinnern. Kein schönes Ostern. Nichts. Immer war die Hälfte der Familie betrunken, bis irgendwann die Worte und dann auch die Handlungen entgleisten. Gelernt hat daraus nie jemand.
Und jetzt? Jetzt bekomme ich diese Depression. Eine Welle, die so gewaltig ist, dass sie all meine Pläne zerschmettert. Mein Vorsatz, meine Hoffnung, eine Ausbildung zum Genesungsbegleiter zu machen – um anderen zu helfen, um all dem Leid vielleicht einen Sinn abzuringen – ist in weite, unerreichbare Ferne gerückt.
Kennt ihr das? Dieses zermürbende Nachdenken ist einfach nur Scheiße.
Oder ist es gar kein Karma? Schwebt über mir vielleicht einfach immer nur diese eine, verfluchte Regenwolke?